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Titel
Leverkusen. Geschichte einer Stadt am Rhein


Herausgeber
KulturStadtLev - Stadtarchiv; Redaktion: Gabriele John und Stefan Ehrenpreis unter Mitarbeit von Sylvia Geburzky
Erschienen
Anzahl Seiten
642 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Wunsch, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Kölns nördliche Nachbarin gilt als geschichtsloses Kunstprodukt. Doch im Jahr 2005 war man in Leverkusen stolz, ein doppeltes Jubiläum zu begehen: 75 Jahre zuvor wurde die Stadt gegründet, 30 Jahre zuvor erhielt sie im Zuge der kommunalen Gebietsreform in Nordrhein-Westfalen ihre heutige Gestalt.

Junge Städte wie Leverkusen sind nicht organisch gewachsen, bestehen aus zahlreichen Puzzleteilen und weisen kein einheitliches Siedlungsgefüge oder eine eigentliche Stadtmitte auf. Meist sind sie „suburbane“ Stadtlandschaften in der Nähe von alten Großstädten, und meist entstanden sie erst im 19. oder 20. Jahrhundert. Gemessen am Begriff der alten europäischen Stadt handelt es sich nicht um Städte „im üblichen Sinne“1, sondern um große Verwaltungseinheiten, deren ursprünglichen Bestandteile zwar ihre kommunale Selbstständigkeit verloren, ein gewisses Eigenleben jedoch meist behielten. Im Falle der Gründung Leverkusens 1930 waren dies die alten Orte Rheindorf, Schlebusch und Steinbüchel, die mit der Stadt Wiesdorf, die zu diesem Zeitpunkt selbst erst seit neun Jahren über Stadtrechte verfügte, zu einem Stadtgebilde verbunden wurden. 1975 wurde dieses Leverkusen mit seinen ebenfalls noch „jungen“ Nachbarstädten Bergisch Neukirchen, Hitdorf und der Kreisstadt Opladen (einst ein zentraler Ort im Herzogtum Berg) zur neuen kreisfreien Stadt Leverkusen zusammengeschlossen. Wie schreibt man die Geschichte eines solchen Gebildes, dessen Karte einem Flickenteppich ähnelt und dessen Siedlungen sich vom Uferstreifen der Rheinebene bis auf die Anhöhen des Bergischen erstrecken?

Konzeptionell folgt der von zehn Autoren verfasste Band dem Vorbild klassischer Stadtgeschichten und führt vom ersten Nachweis menschlichen Lebens im Stadtgebiet in der jüngeren Altsteinzeit bis in die Gegenwart. Ebenso wie neuere Stadtgeschichten 2 und maßgebliche Nachschlagewerke 3 geht auch diese Darstellung von der modernen Verwaltungsgliederung aus, die im 19. und 20. Jahrhundert durch Eingemeindungen und Neugliederungen geschaffen wurde. Es stellt sich allerdings die Frage, ob der geschichtlichen Entwicklung nicht Zwang angetan wird, wenn man das Gebiet einer „künstlichen“ Großstadt, einer „Region mehrerer Dörfer“ (S. 14), gleichsam in die Vergangenheit zurückprojiziert? Gabriele John und Stefan Ehrenpreis betonen in der Einleitung, dass es auf der Ebene der Orte im Gebiet der Niederwupper „zumindest seit dem Spätmittelalter“ Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge gebe, die diese Betrachtungsweise historisch rechtfertigen könnten. Abgesehen von der prägenden administrativen Zugehörigkeit weiter Teile des heutigen Stadtgebietes zu zwei bergischen Ämtern war es der Rhein, der Arbeit bot, zur Gefahr werden konnte und Handel sowie Kommunikation ermöglichte, schließlich auch das in Sichtweite gelegene Köln als Absatzmarkt und „Metropole“ mit enormer „Sogwirkung“ (S. 15). Dennoch wird man sich bewusst bleiben müssen, dass es sich mindestens bis ins 19. Jahrhundert hinein um einen gewissen „Anachronismus der Sache und des Worts“ handelt, wie Stefan Gorißen es treffend formuliert (S. 179).

Die naturräumlichen, topographischen und kulturlandschaftlichen Gegebenheiten sowie die archäologischen Funde sind das Thema der Beiträge von Claus Weber, Hans-Eckart Joachim und Klaus Frank. Die meisten Beiträge zeichnen sich durch ein hohes Niveau aus, so auch Albrecht Brendlers Abhandlung über den Leverkusener Raum im Mittelalter. Er erwähnt die Erstbelege der Orte, legt die Siedlungsanfänge und ihre kirchliche Entwicklung dar, widmet sich der politischen Geschichte des Raumes, der Gerichtsbarkeit und der Verwaltungsorganisation und behandelt schließlich noch die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, wobei er die Adelssitze in seine Darstellung einbezieht. Dem Zeitraum von 1521 bis 1648 gilt die Studie von Stefan Ehrenpreis. Er schildert, gestützt auf nun reicher fließendes Quellenmaterial, die Raumstrukturen und Verkehrswege, die Agrarverhältnisse sowie die wirtschaftliche Entwicklung, die sozialen Gruppen, ihren Lebensalltag, die religiös-konfessionellen Verhältnisse und nicht zuletzt die Auswirkungen der politischen und militärischen Geschichte.

Die Zeit vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zum Übergang an Preußen 1815 behandelt der Beitrag von Stefan Gorißen. Er geht explizit von diesen zwei tiefen politischen Zäsuren aus, legt den Schwerpunkt aber auf die konkreten Lebensumstände und die sich nur langsam ändernden ländlich-agrarischen Strukturen im Gebiet der Niederwupper, in dem es zu Anfang des 19. Jahrhunderts noch keine Ansätze einer städtischen Entwicklung gab. Gorißen konzentriert sich auf den Naturraum, die Bevölkerungsentwicklung und die Siedlungsformen, skizziert Erwerbsformen und Lebensunterhalt und geht schließlich auf die alltäglichen Lebensperspektiven und die religiösen Verhältnisse ein. Den detaillierten Beitrag über das „lange“ 19. Jahrhundert von 1815 bis 1914 hat Gabriele John verfasst. Wie John zeigt, lebten zu Anfang des vorletzten Jahrhunderts in den agrarisch strukturierten Dörfern der heutigen Großstadt nur etwa 10.000 Menschen. Zwischen 1890 und 1915 hingegen wuchs alleine Wiesdorf von 2.512 auf gut 21.000 Einwohner (S. 321). John schildert die Neuordnung der kommunalen Verhältnisse durch die preußische Verwaltung, den wirtschaftlichen Wandel und die gesellschaftlichen Verhältnisse bis zur Mitte des Jahrhunderts. Zunehmend erfasste die Industrialisierung mit zahlreichen Unternehmen und Fabriken auch eher strukturschwache Bereiche. In Wiesdorf siedelte sich ab 1860/61 der chemische Betrieb von Dr. Carl Leverkus aus Wermelskirchen an. Der entstehenden Fabriksiedlung gab der Unternehmer selbstbewusst den Namen „Leverkusen“. 1891 entstand mit der Farbenfabrik Bayer & Co. – der späteren Bayer A.G. – die größte Industrieansiedlung im Gebiet Leverkusen. Johns Text widmet sich auch der Gesellschaft und der Politik im Kaiserreich, dem Vereinswesen, der Entwicklung der einzelnen Orte, dem Städtebau, der Kommunalpolitik sowie der entstehenden Leistungsverwaltung.

Den Abschnitt über den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Zeit und das „Dritte Reich“ hat Joachim Scholtyseck erarbeitet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts veränderte sich das Landschaftsbild insbesondere Wiesdorfs mit atemberaubender Geschwindigkeit, entwickelte sich die große Industriesiedlung in der Nähe der Fabrikanlagen zu einer eigenen Stadt, ja zu einer „monoindustriellen Agglomeration“ (Klaus Martin Ris). Scholtyseck stellt nicht nur die politischen Entwicklungen und die Bildung der Stadt Leverkusen dar, sondern auch die insbesondere von chemischer Industrie (I.G. Farben) sowie Metall- und Munitionsfabriken geprägte Wirtschaft. Der Beitrag schildert zudem die „dunkelsten Kapitel der Stadtgeschichte“ (S. 406), die nationalsozialistische Zeit in Leverkusen und Opladen. Die in dieser Zeit begonnene Planung einer Stadtmitte, derer die zerrissene Stadt bedurfte, wurde unter anderen Vorzeichen in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre wieder aufgegriffen.

Mit der Nachkriegszeit und den Jahren bis 1974 befassen sich regional getrennte Beiträge. Während Matthias Bauschen Opladen, Bergisch Neukirchen und Hitdorf behandelt, wird Leverkusen im engeren Sinne von Gert Nicolini betrachtet, der auch die Siedlungsbauten und städtebaulichen Projekte skizziert. Nachdem Leverkusen 1955 ausgekreist worden war, die Bevölkerung enorm anwuchs und Stadtteile in „amerikanischem“ Tempo entstanden, machte man sich nun auch an das ehrgeizige Projekt einer künstlichen Stadtmitte: Leverkusen sollte „endlich eine Stadt“ werden (S. 490), Urbanität sollte entstehen, „Bauverdichtung“ erreicht werden – das berüchtigte, monumentale „Lindwurm“-Projekt – doch ein „wirkliches Ganzes“ ist diese City bis heute nicht geworden (S. 493). Knapp gehalten ist leider der Teil über die konfliktreiche kommunale Neugliederung und die Auseinandersetzungen mit Köln. Die neue Stadt Leverkusen seit 1975 wird abschließend von Matthias Bauschen porträtiert.

Der großformatige Band ist im positiven Sinne textlastig, doch mit einigen gut reproduzierten und sorgfältig kommentierten Abbildungen ausgestattet. Den Text ergänzen Tabellen und Kästen mit Kurzbiographien (etwa zu Carl Duisberg, S. 291), die Anmerkungen sind jeweils im Anschluss an die Aufsätze abgedruckt. Eine Zeittafel, eine Bibliographie und ein Register zu Personen, Institutionen und Orten runden den Band ab. Auch wenn Leverkusen selbst eine „junge“ Stadt ist, so ist es doch sehr zu begrüßen, dass Rat und Verwaltung der Stadt das Doppeljubiläum zum Anlass nahmen, eine über weite Strecken vorzügliche und äußerst lesenswerte Stadtgeschichte in Auftrag zu geben. Bliebe nur die Frage, wie eine auf Grund funktionaler Erwägungen gebildete, zersiedelte „künstliche“ Stadt eine eigene Identität gewinnen kann.

Anmerkungen:
1 Ris, Klaus Martin, Leverkusen: Großgemeinde – Agglomeration – Stadt, Remagen/Rhein 1957.
2 Siehe als rheinische Beispiele der letzten Jahre etwa: Eßer, Albert (Hrsg.), Bergisch Gladbacher Stadtgeschichte (Beiträge zur Geschichte der Stadt Bergisch Gladbach, Bd. 9), Bergisch Gladbach 2006; Bosdorf, Ulrich (Hrsg.), Essen - Geschichte einer Stadt, Bottrop/Essen 2002.
3 So etwa Groten, Manfred u.a. (Hrsg.), Handbuch der Historischen Stätten Nordrhein-Westfalen, 3., völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart 2006; der Beitrag über Leverkusen (S. 660–665) stammt von Gabriele John und Stefan Ehrenpreis.